Über das Projekt
Im Jahr 2023 startete das Under- und Tuglas-Literaturzentrum der Estnischen Akademie der Wissenschaften das fünfjährige Forschungsprojekt „Kontakt, Übergang, Wandel: nobilitas haereditaria ac litteraria in der Herausbildung der frühneuzeitlichen Literatur im polnischen und schwedischen Livland“. Das Hauptziel dieses Projekts ist es, der breiteren Forschungsgemeinschaft die aktuelle Forschungslücke in der Geschichte der Literatur des estnischen und livländischen Adels in der Frühen Neuzeit (16.-17. Jahrhundert) bewusst zu machen und diese Lücke zu füllen mit unvoreingenommenen wissenschaftlich und interdisziplinär fundierten Fallstudien, kritischen und kommentierten Editionen von Schlüsseltexten und einem Handbuch, das auf einer soliden Bibliographie basiert. Das Projekt strebt eine kritische Revision des aktuellen Umgangs mit der deutschbaltischen Literatur an.
Hypothesen und Ziele
Das Projekt basiert auf der Hypothese, dass die Entstehung des schreibenden Adels in Estland und Livland nicht nur durch eine rasche Verbesserung der wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Situation des Adels am Ende des 18. Jahrhunderts verursacht wurde, sondern auch durch einen soziokulturellen, pädagogischen und literarischen Wandel, der sich bereits in der Frühen Neuzeit in den folgenden Schritten ereignete:
- die weit verbreitete Nobilitierung der Gelehrten und Beamten und ihrer Nachkommen im 16.–17. Jahrhundert;
- die Vermischung von unter polnisch-litauischer und schwedischer Herrschaft Nobilitierten mit dem alten deutsch-baltischen Adel;
- die Übertragung der literarischen und wissenschaftlichen Ideale und Kompetenzen der Gelehrten und Beamten auf den alten Adel.
Dabei wollen wir nicht die Ergebnisse des Wandels, also die vom Adel im 18.–19. Jahrhundert geschaffene Literatur, analysieren, sondern die vorangegangene frühe literarische Situation.
Entgegen der These von Wilpert (2005), dass die deutschbaltische Literatur „von Adligen und Literaten getragen [wurde], deren Trennung durch zunehmenden Austausch – indem Adlige Schriftsteller, Schriftsteller geadelt wurden – verwischte“, gehen wir davon aus, dass:
- die Wechselwirkung in der Frühen Neuzeit kein diffuses Phänomen war, sondern in einer Richtung verlief: Nach dem Aufstieg der Autoren in den Adelsstand beeinflusste ihre Vermischung mit dem alten Adel durch Heirat nach und nach über mehrere Generationen den Hochadel insgesamt im Hinblick auf literarische Aktivität;
- gerade die langsame, aber zunehmende Nobilitierung die Nachhaltigkeit des literarischen Wandels für die nächsten Jahrhunderte sicherte.
Durch das aktive Verfassen und die Wertschätzung der auf der Grundlage der Bildungstradition entstandenen Schreibkultur war der deutschbaltische Adel ein Beispiel für die ersten Generationen estnischer Literaten. Nach ihrem Vorbild wurde die Beherrschung des literarischen Ausdrucks zu einem Mittel für den Aufstieg der Esten in die Elite der Gesellschaft. Daher ist eine genauere Verzeichnung und Analyse der frühen Adelsliteratur auch für das Verständnis der späteren estnischen Literatur von entscheidender Bedeutung.
Arbeitsbereiche
I Die Gattungsaspekte der adeligen Literatur
Wir werden beobachten, ob es durch die Aufnahme von Nobilitierten zu Veränderungen in typischen Genres des alten Adels kam. Wurde der alte Adel in den Jahrzehnten des Übergangs noch konservativer und bevorzugte seine „ursprünglichen“ Genres? Haben sich die bevorzugten Schlüsselgattungen der unterschiedlichen Adelskategorien in der Frühen Neuzeit angeglichen?
II Gemeinsame Konzepte – wechselnde Konzepte
Dieser Arbeitsbereich konzentriert sich auf die Analyse, welche charakteristischen Konzepte der frühneuzeitlichen Literatur in den Texten des alten Adels und der kürzlich geadelten Autoren dominierten und wie der literarische Wandel einige paradigmatische Konzepte beeinflusste.
III Strategien und Modelle des Schreibens, der Kommunikation und Veröffentlichung
Wir analysieren die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den literarischen Praktiken des alten und neuen Adels hinsichtlich der Verbreitung literarischer Werke (handschriftlich versus gedruckt) sowie der Verflechtungen im Rahmen von Autorennetzwerken, z.B. der Ritterschaften, ausländischer und lokaler Adliger, die in Livland tätig waren. Wir beobachten, welche für die frühneuzeitliche Literatur typischen Verflechtungen (z. B. Intertextualität, auch zwischen religiösen und weltlichen Texten, Verbindung von visuellen und verbalen Medien, Mehrsprachigkeitspraktiken) durch diesen allgemeinen Wandel aktiviert wurden und welche Rolle die Zeitungen in der literarischen Selbstdarstellung des Adels spielten.
Weitere Informationen zur Arbeitsbereiche
Martin Klöker „Adel und Literatur im frühneuzeitlichen Baltikum. Fakten – Fiktionen – Analysen“
Aufnahme des Vortrags anlässlich der Eröffnung des Forschungsprojekts am 20. April 2023 in der Estnischen Akademie der Wissenschaften, mit der Einleitung von Kristi Viiding
Das Projekt wird vom Estonian Research Council finanziert (PRG1926).