I Die Gattungsaspekte der adeligen Literatur

Unter Berücksichtigung vergleichbarer Erkenntnisse aus anderen Ländern und späterer literarischer Praktiken des livländischen Adels gehen wir davon aus, dass es paradigmatische Gattungen gibt, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen, um den literarischen Wandel zu erkennen. Dazu können gehören:

  • Chroniken, andere Landesgeschichtsschreibungen und Abhandlungen über Staatskunst und Politik;
  • Reden (die Bedeutung der Rhetorik ist seit dem Mittelalter anzunehmen, da der livländische Vasall seinem Herrn gegenüber nicht nur eine militärische Pflicht hatte, sondern auch als Beistand, z.B. in Gerichtsverfahren, die Kenntnisse des praktischen Lebens (Gesetze) und die Fähigkeit, diese mündlich auszudrücken, benötigte);
  • weltliche Gedichte (ein bemerkenswerter Teil der von Adligen geschriebenen Gedichte waren Lobreden an das zeitgenössische Königtum. Dies könnte sowohl an der Wende vom 16. zum 17. als auch vom 17. zum 18. Jahrhundert, in der kritischen Übergangszeit von der polnischen zur schwedischen und von der schwedischen zur russischen Herrschaft geschehen sein, wobei wir die Hypothese aufstellen, dass poetische Panegyrik auf die königlichen Würdenträger als Nachwirkung des Treueids der mittelalterlichen Vasallen auf ihre Herren (lat. homagium) fungiert haben könnten);
  • Religiöse Poesie (eines der dauerhaften allgemeinen Kennzeichen der deutschbaltischen Literatur);
  • Reiseberichte (Reisen von einem Hof, Gut und, in der Frühen Neuzeit, auch von Universität zu Universität gehörten neben der Kavalierstour traditionell zum Leben adeliger, aber auch nichtadliger Studenten der Frühen Neuzeit.

Wir werden beobachten, ob es durch die Aufnahme von Nobilitierten zu Veränderungen in typischen Genres des alten Adels kam. Wurde der alte Adel in den Jahrzehnten des Übergangs noch konservativer und bevorzugte seine „ursprünglichen“ Genres? Haben sich die bevorzugten Schlüsselgattungen der unterschiedlichen Adelskategorien in der Frühen Neuzeit angeglichen?

 

II Gemeinsame Konzepte – wechselnde Konzepte

Dieser Arbeitsbereich konzentriert sich auf die Analyse, welche charakteristischen Konzepte der frühneuzeitlichen Literatur in den Texten des alten Adels und der kürzlich geadelten Autoren dominierten und wie der literarische Wandel einige paradigmatische Konzepte beeinflusste. Wir werden beobachten, ob die apologetische Selbststilisierung zur nobilitas vera, die für frühneuzeitliche humanistische Diskurse in ganz Europa typisch war, auch in Livland vertreten war, oder ob dieser Begriff durch die intensive Nobilitierung von Gelehrten an Aktualität verlor. War seine Vermeidung ein spezifisches Merkmal der livländischen frühneuzeitlichen Literatur, weil die Integration vieler frühneuzeitlicher Migranten in die heterogene Gruppe des Adels erfolgte, um die oberen Schichten der korporativen lokalen Gesellschaft zu bilden, zumindest bis zu den 1740er Jahren, als der regionale Adel in den Adelsmatrikeln fixiert wurde? Wichtig ist hier auch die Frage, ob und inwieweit die rhetorische Argumentation der alten und neuen livländischen Adligen von der reichen Rezeption der Antike, vom Begriff des homo novus und Cicero als dessen Hauptbeispiel beeinflusst war? Die mögliche Themenverschiebung wird auch für die Gruppe der akademischen Schriften analysiert, d.h. Disputationen, akademische Reden und Glückwunschgedichte, die von jungen Adligen verfasst wurden, die sowohl an lokalen Bildungseinrichtungen in Tartu, Riga und Tallinn als auch anderswo in Europa studiert haben.

 

III Strategien und Modelle des Schreibens, der Kommunikation und Veröffentlichung

In diesem Arbeitsbereich werden wir uns auf die folgenden Fragen konzentrieren:

  • Ob und wann hat der alte Adel die Strategie übernommen, seine literarischen Werke in gedruckter Form zu verbreiten (typische Strategie der Gelehrten und Bürger) und die Manuskriptform aufzugeben? Welche Rolle spielten die Zeitungen und Zeitschriften bei der Unterstützung oder Unterdrückung der literarischen Aktivitäten des Adels?
  • Ob und wie hat sich die schriftstellerische Tätigkeit der geadelten Schriftsteller und ihrer Kinder vor dem Hintergrund des allgemeinen Wandels verändert? Hat es ihren Lebensstil verändert und sie zu Adligen gemacht oder sind sie „bürgerliche“ Gelehrte in den Städten geblieben? Brechen ihre Nachkommen die akademische Ausbildung ab? Haben sie angefangen, Themen zu verwenden, die typisch für die Adelsliteratur sind, z.B. das Thema heroischer Adel?
  • Welche für die frühneuzeitliche Literatur typischen Mischungsstrategien (z.B. Intertextualität, u. a. zwischen religiösen und weltlichen Texten, Kombination von visuellen und literarischen Formen, Mehrsprachigkeitspraktiken) wurden durch diesen allgemeinen Wandel aktiviert?
  • Funktionierte die von dem in Livland lebenden/arbeitenden ausländischen Adel verfasste und veröffentlichte Literatur als zusätzliches Vorbild für den deutschbaltischen Adel?
  • Bietet die Literatur des frühneuzeitlichen Adels ein stark vernetztes Textgeflecht, z.B. in Bezug auf die Ritterschaften, oder spiegelt es hauptsächlich individuelle Interessen der Autoren wider?